Kirche im Lokschuppen

von Jürgen Mette

Es ist noch keine 50 Jahre her, 

da kamen um vier Uhr morgens die Maschinisten, Lokführer, Heizer und Schlossergesellen und öffneten die schweren Holztore des Ringlokschuppens  am Marburger Hauptbahnhof. Manche Gesichter sahen so aus, als hätten sie im Waffeleisen übernachtet. Gähnende Männer in ölverschmierten Overalls und speckige Schirmmützen auf dem Kopf eilen – vielleicht nach kurzer Nacht- zu ihren Dampfrössern. „Gemorje, gemorje“ ist die Miniatur der morgendlichen Kommunikation in der oberhessischen Universitätsstadt Marburg. Man kennt sich über Jahre. Einmal Eisenbahn heißt immer Eisenbahn.

Die  Kohlen wurden im Tender gebunkert, Wasser rauschte aus eisernen Behältern in die Tanks, kurze Kommandos werden gerufen, in den ersten Loks brennt schon das funkensprühende Feuer. Es war noch reichlich Glut vom Vorabend da. Die  Heizer, eben noch sauber, die Kernseife versprüht ihren spröden Charme, schon liegt der Ruß auf Kopf und Hals, der Schweiß fließ bald reichlich in die dicken schwarzen Jacken mit den Messingknöpfen. Die Schlosser sind mit den Ölkännchen und Fettpresse zugange und achten penibel darauf, dass keine Schmierstelle übersehen wird. Kurz nach Fünf erschallte der erste Pfiff aus dem dampfgetriebenen Signalhorn. Der Schall kroch hinauf zum Ortenberg und über die Lahn hinüber zum Schlossberg. Pünktlich wie an jeden Morgen bewegte sich das zischende Ungetüm ganz langsam raus auf die Drehscheibe. Kurze Befehle halfen beim Rangieren. Die Hemmschuhe wurden gesetzt und der Mann auf der Drehscheibe drehte von seinem Wärterhäuschen aus die nun startklare Lok an das richtige Gleis. Ein eingespieltes Team bewegte die Dampflok mit einem Gesamtgewicht von 145 Tonnen, vollgeladen mit Kohle und Wasser. Die Dampflokflotte der Reichsbahn/ Bundesbahn waren die treibenden Kräfte des Wiederaufbaus und der Mobilität in der Nachkriegszeit. Der Begriff „Klimawandel“ war unbekannt.

Der Lokschuppen war der Hafen mit 16 Stellplätze für die Giganten aus Stahl. Hier war der Pflegestützpunkt: Verschleißteile mussten ausgewechselt werden, Heißdampfrohre abgedrückt, Messgeräte justiert, der Dampfkessel musste akribisch gepflegt werden.

In Kürze würde die Lok acht Waggons am Haken haben und über Biedenkopf und Bad Laasphe bis nach Erndtebrück und wieder zurück ziehen. Ab und zu brachten die Loks ganze Pferdeherden nach Marburg, die dann über die Bahnhofstraße, die  Ketzerbach und die Marbach hinauf zu den Behringwerken trabten, wo sie dort für die Serum-Produktion gebraucht wurden.

Nachdem die letzten Dampfloks den Schuppen verlassen hatten, fiel das halbrunde Gebäude in einen Dornenschlaf. Von Dorn-Röschen keine Spur. Das traurige Ende einer einst verrußten Großwerkstatt, ein Prachtstück des Maurer- und Bauschlosserhandwerks. Die verrußten  „Mohren“ hatten ihr Schuldigkeit getan. Sie durften mit Abfindungen zu Hause bleiben. Die Eigentümer ließen das Kleinod zerfallen, denn die brauchten das Gebäude nicht mehr.  So verkam der einstige Lokschuppen, die rostigen Dachbinder aus Stahl verloren die Spannung und konnten das Dach mit den großen Ablufthauben nicht mehr tragen und stürzten ein. Und so blieb die Industriebrache im Tiefschlaf. Die Stadt sorgte  mit Gitterzäunen für die Sicherheit. Auf den Mauerresten wuchsen Bäume, Graphites zeugen von den Bewohnern,  die sich mitten in Ölresten und Trümmern eingerichtet hatten. Die Volksbank-Kletterwand, das Privatradio „Unerhört“, die Waggonhalle, das Restaurant  Rotkehlchen und die Hebammenschule  mussten in unmittelbarer Nachbarschaft mit einer wachsenden Rattenpopulation leben.

Zeitenwende

Im Jahr 2022 düsen Sonntagmorgens um fünf Uhr die selbst-fahrenden Reinigungsmaschinen im Eventbereich des Lokschuppensihre Bahnen. Am Vorabend hat eine Wirtschaftsdelegation mit 500 Gästen standesgerecht im aufwendig renovierten Lokschuppen getagt und gefeiert.  Um drei Uhr waren die letzten Gäste abgezogen. Um 5:30 ist die  Veranstaltungshalle sauber und leer. Und dann kommen aus allen Richtungen MitarbeiterInnen leise mit Fahrädern oder zu Fuß  herbeigeeilt, um den Eventbereich für den Gottesdienst der neuen Start-up-Kirchengemeinde UND Marburg vorzubereiten. Das überwiegend junge und mittelalterliche Aufbauteam übernimmt kurz vor Sechs  die Eventhalle und das Foyer. Und dann spult ein eingespieltes Team das Aufbauprogramm ab. Die meisten sind noch so müde, wie die Heizer damals. Ein Blick in den Spiegel lässt einen alten Mann erkennen, der auch schon mal besser ausgesehen hat. „Ich kenne Dich nicht, aber ich rasiere Dich trotzdem!“ murmelt er vor sich hin.

Walter, der ewige Biker, ist im Oktober in Shorts und ärmellosen Shirt gekommen, dass man nur beim Zuschauen schon Gänsehaut bekommt. Mathias, später am Kontrabass auf der Bühne, ist mit dem Ölspray unterwegs, um die trockenen Schraubgewinde der Bühnenfüße gängig zu machen. Thomas, der Zahnarzt, wird später die Klarinette seufzen lassen, schleppt Stühle herbei, der akkurate Reinhard, der sich sonst um die Finanzen kümmert,  kontrolliert mit Zollstock und Bandmaß die Abstände. Dann werden die schweren Bühnenteile aus  dem Lagerhaus  nebenan reingefahren. Die Hälfte der Bühnenteile sind identisch, die andere Hälfte ist ein Puzzle für Erwachsene. Da müssen die Erfahrenen  ran. Dann  die Teppichfliesen auf den Bühnenboden und das schwarze Tuch mit 2-Seitenklebeband  fachmännisch ausgerichtet und befestigt. Die nette Studentin Mia ist inzwischen auch eingetroffen. Ohne Sie gäbe es keine Großleinwand. Wie ein Wiesel klettert sie die fünf  Meter lange Stehleiter hoch und befestigt  die Großleinwand an den Halterungen unterm Dach.

Inzwischen ist die Halle bestuhlt. Wir rechnen mit 250 Personen. Die Soundanlage wird getestet. Beamer und Video-Kameras laufen störungsfrei. Der gesamte Gottesdienst wird per Videostream von weiteren Personen im heimischen Wohnzimmer mitverfolgt. Es geht ruhig zu, aber effektiv. Jeder Handschlag muss sitzen.

Um 8 Uhr sind wir fertig, denn dann kommen die Musiker zum Proben. Und wenn es ganz gut läuft werden wir im Foyer von Rainer-Roman mit einem Stehfrühstück belohnt.

„Und das macht Ihr jeden Sonntag?“ fragt der Freund, den ich mitgebracht habe. Ich lakonisch: „Nee, jeden Zweiten!“- und ab 14:00 Uhr ist Abbau angesagt, weil die nächste Veranstaltung keine Bühne braucht und an Tischen sitzen will. „Das haltet Ihr nicht lange durch!“ meint mein Gast, dem vor alle Dingen das Nebeneinander  von Restaurant und Kirche gefällt. Und ganz leise bete ich „Dem wollen wir es zeigen!“ So manche Freunde bezweifeln, dass man ohne ein festes eigenes Quartier eine neue Gemeinde  gründen kann. Wir sind seit drei Jahren mobile Gemeinde, die sich hybrid aufgebaut hat und die Grillhüten in der Umgebung getestet hat und an Tagen feuchtkühler Witterung Unterschlupf in der Tabor-Gemeinde oder in der ESG gefunden hat. Diese junge Gemeinde ist eine Art experimentelle Modellgemeinde im Kirchenkreis Marburg.

Wir sind eine ambulante (umhergehende)  Kirche, dicht bei den Menschen. Nicht stationär in geschlossener Gesellschaft  hinter dicken Kirchenmauern – sondern als Mieter  in einem Gründer- und Start-up Zentrum. Wie Jesus: er ging den Menschen nach. Man brauchte keinen Termin. Kein distanzierendes Protokoll. Jesus lud die Menschen ein, nicht vor. Und er residierte nicht im Tempel, sondern er war „mitten unter uns“- en passant.

Und doch freuen wir uns, jeden zweiten Sonntag ein solides Dach für rund 50 Kinder und 200 Erwachsene  über dem Kopf zu haben. Mit anderen Nutzern zusammen. Das ist auch ein Bekenntnis zu dem Gott, der Himmel Erde gemacht hat. Der Klimawandel geht uns alle etwas an. Wer den Schöpfer kennt, der wird Sorge für die Schöpfung tragen. 

Und wer steckt hinter dieser genialen Idee,  aus dem gebrochenen Gestrigen etwas Neues geschaffen hat? Gunter Schneider, Unternehmer, Bauherr und Eigentümer des liebevoll renovierten  Lokschuppens. Ohne den Architekten aus der Bauhütte des Klosters Volkenroda, Bernwarth Paulik wäre die Vision nicht zustande gekommen. Eine ideale Besetzung für ein Bauwerk das früher wie heute ordentlich Dampf im Kessel hat. Menschen, die sich aufeinander verlassen konnten und die die Vision einer Begegnungshaus mit Sinnstiftung, ein Labor für Start-up-Unternehmen, ein Haus gepflegter Kulinarik für den anspruchsvollen Gaumen und für eilige Interimsesser und für Leute, die jetzt erst mal einen Kaffee brauchen, frisch geröstet. 

Lokschuppen Marburg – the new place to be!

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